Seit Jahren wird darüber gestritten, ob elektronische Bücher je ihre Vorgänger, die aus toten Bäumen gemacht werden, verdrängen können oder nicht. Puristen halten am gebundenen Buch fest, Digerati wie ich schwören auf ihren Kindle und würden am liebsten die Bücherverbrennung wieder einführen (wegen des Heizwerts!). Aber ich denke, die Wahrheit liegt wieder mal, wie so oft, irgendwo in der Mitte.
Vorausgeschickt sei das Geständnis, dass es mir bislang noch nie gelungen ist, Ulysses, das Schlüsselwerk von James Joyce, dem Aushängeschild der literarischen Avantegarde des 20sten Jahrhunderts, zu Ende zu lesen. Ja, ich habe es schon oft probiert, sicher ein Dutzendmal in den letzten 40 Jahren. Und ich schäme mich deshalb auch, weil ich ja einmal an meiner amerikanischen Uni moderne Literatur studiert habe und mir die „Lost Generation“ um Hemingway, Fitzgerald, Steinbeck, Los Passos, Faulkner oder Gertrude Stein innig vertraut sind. Nur an dem, von dem viele sagen, er sei der Größte gewesen, bin ich immer gescheitert.
Ich bin schon auf dem Martello-Turm in Sandycove bei Dublin gestanden, wo Buck Mulligan mit dem Rasierbecken die Heilige Messe verballhornt, habe Stephen Deadalus zur Schule und zum Strand begleitet und habe immer wieder gemeint, den Duft der verbrannten Lammniere zu riechen, die Leopold Bloom zum Frühstück brät. Aber irgendwie war spätestens in dieser vierten von 18 Episoden, aus denen sich Ulysees zusammensetzt, für mich Endstation. Ich legte das dicke Trumm zur Seite, um mich mit leichter Kost abzulenken, und dort lag es dann wochenlang, bis ich es endlich wieder ins Bücherregal räumte.
Ich bin übrigens keineswegs allein: Ich kenne viele Leute, die es nur bis zur Niere geschafft und dann aufgegeben haben, Irgendwie ist das so eine Schlüsselstelle, an der sich die literarische Spreu vom Weizen trennt. Dabei würde ich ja so gerne den berühmten Monolog der Molly Bloom lesen um die ganze Aufregung zu verstehen, die dazu geführt hat, dass Ulysses jahrelang beidseits des Atlantik verboten war (nur nicht in Irland, wie der Spiegel noch 1961 fälschlicherweise behauptet hat). Aber so weit bin ich eben noch nie gekommen, und mein Schamgefühl verbot es mir immer, einfach nach hinten zu blättern und zu „spicken“.
Das Problem von Ulysses, jedenfalls für mich, sind die vielen, vielen Hinweise auf Bücher, Orte und Menschen, die ich nicht kenne. Joyce war ein Renaissancemensch, und das Buch ist vollgestopft mit geheimnisvolle und teilweise hirnrissige Andeutung, verfälschte Zitatfetzen und feinsinnigen Sprachwitzen, die nur derjenige verstehen kann, der genauso vielseitig belesen ist wie Joyce selber.
Das bin ich leider nicht, und so waren meine Lektürenversuche bislang immer zum Scheitern verurteilt. Ich habe mittlerweile so was wie eine richtige Ulysses-Phobie entwickelt: Jedesmal, wenn ich das Buch sehe, zuckt mein schlechtes Gewissen zusammen und ich habe das Gefühl, als Bildungsmensch versagt zu haben.
Aber damit ist jetzt Schluss! Und schuld daran ist der Kindle. Ich bin stolzer Besitzer eines „Paperwhite“-Modells von Amazon mit hinterleuchtetem Bildschirm und WLAN-Anschluss, was bedeutet, dass ich einzelne Wörter, die ich nicht kenne oder deren heimliche Bedeutung mir fremd ist, per Fingerdruck auswählen kann. Sofort erscheint der entsprechende Eintrag im „Oxford English Dictionary“, beziehungsweise im Online-Lexikon von Wikipedia.
Das ist ein völlig neues Leseerlebnis! Auf einmal verstehe ich Dinge, die mir bislang verborgen waren, weil ich zu faul war, aufzustehen und zum Bücherregal (oder zum Computer) zu gehen, um etwas nachzuschlagen, bevor ich weiterlas.
Hier offenbart sich für mich eine ganz neue Dimension vernetzen Lesens: analog und digital wachsen nahtlos zusammen. Okay, der Kindle ist ein digitales Gerät, aber er zeigt mir Seiten, die genauso gut aus Papier sein könnten und auf denen ich wie gewohnt linear lese, also von Anfang bis Ende. Nur kann ich gleichzeitig den Vorteil der Verlinkung nutzen und sozusagen tiefer in den Text einsteigen, quasi einen hypertextualen Umweg einschlagen, um mir vor dem Weiterlesen neuen Kontext einzuholen – so wie auf einer Webseite!
Auf diese Weise bin ich bis zu Episode 9 („Scylla & Charybdis“) vorgestoßen, wo Joyce sich mit Plato, Aristotle, der esoterischen Theosophie von Annie Besant im 19ten Jahrhundert und Shakespeares Hamlet-Psychose auseinander setzt. Und an dieser Stelle hatte ich wieder das Gefühl, nur noch Bahnhof zu verstehen, und war wieder kurz vorm Aufgeben.
Statt dessen habe ich mir bei Google Rat geholt, und dabei bin ich auf das Buch „Ulysses Annotated“ gestoßen, das der Joyce-Forscher Don Gifford von der Williams-Universität in Massachusetts 1974 herausgegeben hat und das auf fast 700 Seiten Tausende von Quellenangaben, Querverweise und historische Fußnoten enthält. Hier war endlich das, was ich schon immer gesucht hatte: Jemand, der mir erklären konnte, was sich Joyce gedacht hat, als er sein wildes Durcheinander von Bewusstseinsströmen, flüchtigen Beobachtungen, geistesgeschichtlichen Betrachtungen und banalen Alltagseindrücken zu Papier brachte!
Und so liegen sie nun nebeneinander vor mir auf dem Tisch: das E-Book und der Wälzer. Ich lese Absatz für Absatz auf dem Kindle und drehe den Blick dann sofort zum aufgeschlagenen Papierbuch, um zu erfahren, was sich die Gnostiker unter einem „aurischen Bewusstseins-Ei“ vorgestellt haben oder warum Joyce von Shakespeare als dem „Schlächtersohn“ spricht (sein Vater John war obskuren Quellen zufolge angeblich Metzger).
Ich gebe zu: Das ist eine etwas mühsame Methode, aber sie zeigt Wirkung: Ich bin schon bei den Wandersteinen (Episode 10) angelangt und freue mich auf den Gesang der Sirenen (Episode 11). Und ich beginne immer mehr, mit Vergnügen zu lesen und nicht nur aus Pflichtbewusstsein. Tout comprendre est tout profiter.
Lieber Tim,
eigentlich ist das ja ein ganz alter Traum. In meinem Aufsatz „Digital ist anders“, erschienen am 17. September 2011 in der F.A.Z. (hüstel hüstel …), konnte ich aufzeigen, dass diese Vision vom Hypertext eigentlich schon im Jahr 1945 von Vannevar Bush vorgedacht wurde. Ich zitierte ihn wie folgt:
„Stellen Sie sich ein künftiges Arbeitsgerät zum persönlichen Gebrauch vor“, schrieb Bush damals, „das eine Art mechanisiertes privates Archiv oder Bibliothek darstellt . . . Wenn der Benutzer ein bestimmtes Buch zu Rate ziehen will, gibt er den Code über die Tastatur ein, und sofort erscheint die Titelseite des Buchs vor ihm, projiziert auf einen der Sichtschirme . . . Da dem Benutzer mehrere Projektionsflächen zur Verfügung stehen, kann er einen Gegenstand in Position lassen und weitere aufrufen. Er kann Notizen und Kommentare hinzufügen . . . Es braucht jedoch noch einen weiteren Schritt zur assoziativen Indizierung. Deren grundlegender Gedanke ist ein Verfahren, von jeder beliebigen Information – sei es Buch, Artikel, Fotografie, Notiz – sofort und automatisch auf eine andere zu verweisen . . . Es ist ein Vorgang, der zwei Informationen miteinander verbindet. Das ist das Kernstück . . . Der Benutzer drückt eine einzige Taste, und die Gegenstände sind dauerhaft miteinander verbunden . . . Ganz neue Arten von Enzyklopädien werden entstehen, bereits versehen mit einem Netz assoziativer Pfade . . . Der Chemiker, der sich mit der Synthese einer organischen Verbindung müht, hat alle Fachliteratur in seinem Labor vor sich, mit Pfaden, die sich mit Vergleichen zwischen Verbindungen befassen, und Seitenpfaden über ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften . . . Es wird ein Berufszweig von Fährtensuchern entstehen, die sich damit beschäftigen, nützliche Pfade durch die ungeheure Menge von Aufzeichnungen und Dokumenten anzulegen.“
Und trotzdem mag der kleine Weg vom Lesestuhl zum Regal, in dem ein taugliches Konversationslexikon stehen sollte, die intellektuellen Fähigkeiten des Lesenden stärken. In Maßen tut Bewegung gut. Kurz: ein Kindle kommt mir nicht ins Haus.
Dann wünsche ich viel Vergnügen beim letzten Kapitel (ich verrat mal nicht, wie es ausgeht)!
Kommt nach dem Ulysses die Totenwache des Finnegan an die Reihe?