Joachim Gauck, Prediger im Gottesstaat (Bild: Tohma)
Ein Pastor als Präsident, eine Pastorentochter als Kanzlerin … ist Deutschland auf dem Weg zum Gottesstaat?
Die Frage ist ernster gemeint, als sie auf den ersten Blick wirkt. Die Wahl Gaucks und die unglaublichen Zustimmungswerte für diesen Mann aus beinahe allen Schichten der Bevölkerung sind ja kein Zufall. Überparteilichkeit und Predigertalente werden neuerdings wieder stark nachgefragt.
Tatsächlich ist dieser Trend ein Ausdruck antidemokratischer Dünkel. Denn wahre Demokratie lebt vom Konflikt, von der Auseinandersetzung, davon, dass die Menschen Partei ergreifen. Wenn die Menschen das „Parteiengezänk“ satt haben, dann haben sie in Wirklichkeit die Demokratie satt. Tief in ihrem Herzen wünschen sie sich einen „guten Diktator“, oder wenigstens eine Queen mit Richtlinienkompetenz.
A propos Queen.
Interessant ist, dass das Image von Angela Merkel dem Image Gaucks durchaus ähnlich ist. Das hat zuletzt EMNID im Auftrag des Senders N24 herausgefragt. Da mag die CDU noch so sehr abgewirtschaftet haben, an Angie perlt alle Kritik ab, Skandale werden Peanuts. Die Pastorentochter schwebt nicht nur über der CDU, sondern wie ein Damoklesschwert über Volk und Land. Egal wie sich die Jungs um sie herum gerade wieder einmal blamieren, die Mutter der Nation darf als späte Wiedergeburt von Inge Meysel im Kanzleramt weiterwursteln. Nur war die eine eine großartige Schauspielerin, während die andere … . Aber werden nicht alle Dinge stets nur als Farce wiedergeboren?
Die aktuellen politischen Probleme – Europa steht am Abgrund und die Rente ist auch nicht mehr sicher – werden als so groß und übermächtig empfunden, dass allenfalls eine ganz große Koalition uns vor dem Untergang noch retten kann. Doch wie soll man seinen Parteien im Herzen auch treu bleiben, wenn die SPD wie eine wild gewordene Streichwurst herum hartzt, die Grünen Deutschland am Hindukusch verteidigen und die Union die Atomkraftwerke einmottet? Alt-Stalinisten und Online-Kinderschänder sind ohnehin nur für marginalisierte Spießer eine wählenswerte Alternative. Hab ich jemanden vergessen im Parteienpatchwork? Richtig, die Strolche unseres vietnamesischen Zigaretten-Dealers. Aber die kann man schon mal vergessen.
Also verwandeln wir „Unsaland“ – nicht weniger als neun mal sprach Gauck in seiner Antrittsrede von diesem seltsamen Unsaland – in ein großes Kloster der Prediger und Worthülsenschwinger. Die paar Störenfriede, die Politik noch immer als Diskurs verstehen, werden Zug um Zug marginalisiert. In allen Parteien. Solange, bis sich wirklich alle irgendwie lieb haben. Das mag noch ein wenig dauern, aber Qom wurde ja auch nicht an einem Tag gebaut.
Hohe Priester in hohen Staatsämtern passen wohl in unsere Zeit und in Unsaland. Seltsam nur, dass es immer protestantische sein müssen. Neben Gauck wurden ja zuletzt auch die beiden letzten Ratspräsidenten der EKD, Wolfgang Huber und Margot Käßmann, sowie die grüne EKD-Synoden-Präse Katrin Göring-Eckardt für höhere Weihen gehandelt. Evangelische passen wohl besser in diese karge Zeit, in der die barocke Pracht des Katholizismus so deplatziert erscheint, wie schnelle Autos und teure Zigarren. Vielleicht mangelt es katholischen Priestern aber auch einfach am digitalen heiligen Geist, am „Flash“, wie eine Google-Findestelle zum Bistum Limburg nahelegt:
So muss der katholische Flashmob draußen bleiben aus Bellevue.
Nachgeworfene Zitate aus einer Rede
„Zunächst Ihnen, Herr Präsident, meinen allerherzlichen Dank … für das leuchtende Beispiel … in Unsaland hinein, dass Politik Freude machen kann. … Wie soll es denn nun aussehen dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen: Unsaland? … Wie soll es nun also aussehen dieses Land, zudem unsere Kinder und Enkel Unsaland sagen. Es soll Unsaland sein, weil Unsaland soziale Gerechtigkeit, Teilhabe und Aufstiegschancen verbindet. … Unsaland muss also ein Land sein, das beides verbindet. Freiheit als Bedingung von Gerechtigkeit und Gerechtigkeit als Bedingung dafür, Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen. … Sodann: In „UnsamLand“ sollen auch alle zu Hause sein können, die hier leben. Anders als die Demokratie von Weimar verfügt Unsaland über genügend Demokraten … Wir lassen Unsaland nicht im Stich. … Ob wir den Kindern und Enkeln dieses Landes [sc. Unsaland?] Geld und Gut vererben werden, das wissen wir nicht. Aber dass es möglich ist, nicht den Ängsten zu folgen, sondern den Mut zu wählen, das haben wir gezeigt. Gott und den Menschen sei Dank: Dieses Erbe dürfen sie erwarten.“
Unsaland, ein Gottesstaat!
Als evangelischer Pfarrerssohn kann ich nur sagen: Weiter so!
Tim: So kann selbst aus dir noch etwas werden in Unsaland.
Oh mei, Michael. Ich denke, Du machst einen Fehler. Es gibt einen Unterschied zwischen Parteiengezänk und Demokratie. Und wer mit der Qualität der Debatten in diesem „Unsaland“ nicht zufrieden ist, ist nicht gleich führergläubig. Danke für die Unterstellung!
Beispiel gefällig? Derzeit geht es um ein Gesetz für Atomendlager. Das ist natürlich schon deshalb unsinnig, weil man nicht endlagern sollte, sondern aufbereiten, aber das ist eine andere Geschichte. Aber das wird nicht diskutiert, vielmehr wird kolportiert, das müsse man jetzt schnell eintüten, da bald nichts mehr geht. Der Grund: Der Wahlkampf in NRW. Ja, was hat das denn damit zu tun? Ganz einfach, der derzeitige Umweltminister bewirbt sich um einen neuen Job als MP von NRW und kann sich daher nicht um seinen derzeitigen kümmern. Wäre ich sein Chef, würde ich ihn dafür feuern. Und sag mir jetzt nicht, das sei eben Demokratie.
Aber ich bin unschlüssig, ob ich mich da so reinsteigern soll. Du verstehst mich vielleicht nicht. Wer den amtierenden Wirtschaftsminister mit vietnamesischen Zigarettenschmugglern vergleicht ist bei mir politischer Seriosität unverdächtig …
Es geht mir doch nicht darum, jeden als „führergläubig“ zu denunzieren, der unzufrieden ist mit unserer Debattenkultur. Aber ich halte daran fest, dass der Rückzug in die „große Gemeinschaft“, von der „großen Koalition“ bis zum Korporatismus im Kern antidemokratisch ist.
Es ist nicht zuletzt die Enttäuschung über die von SvB ganz richtig beschriebene verlogene Diskussionskultur, die viele Menschen sich vom kritischen Diskurs vollends verabschieden lässt. Diese Enttäuschung führt eben nicht einfach in eine neue „Privatheit“ und in den individuellen Rückzug, sondern in eine formierte Öffentlichkeit.
Im Übrigen habe ich großen Respekt vor Joachim Gauck. Aber zugleich verzweifle ich an der allgemeinen Euphorie, die ihm entgegengebracht wird. Das ist ein wenig wie der zu früh vergebene Friedensnobelpreis an Obama. Obama war das damals peinlich und auch Gaucks größte Herausforderung wird es sein, die Erwartungshaltung an seine Person herunterzuschrauben.
Was das alles mit der Renaissance der Kirche in der Politik zu tun hat?
Die christliche Kirche vertritt in ihrem Kern stets eine Vorbild-Moral. Christus, die Heiligen, das sind Vorbilder, denen es nachzueifern gilt. Vor-Bilder sind die wichtigsten Bilder, mit denen das Christentum das jüdische Bilderverbot außer Kraft gesetzt hat.
Seit der Jahrtausendwende sucht unser Kultur- und Politikbetrieb wieder verstärkt Vorbilder und Helden. In der Shellstudie des Jahres 2000 gab bereits jeder dritte Jugendliche an, ein Vorbild zu haben. Nur vier Jahre zuvor waren das gerade einmal 16 Prozent. Im Jahr 2010 bezeichnen dann gar die meisten Jugendliche ihre Eltern wieder als Vorbilder.
Vorbilder aber gaukeln Stabilität und Sicherheit dort vor, wo diese längst nicht mehr gegeben sind. Vorbilder sind restaurativ, „verkündigt man sie aus dem verzweifelten Wunsch, so werden sie zu blinden und heteronomen Mächten verhext, welche die Ohnmacht nur verstärken und insofern mit der totalitären Sinnesart übereinstimmen“ (Adorno).
Noch einmal: was das alles mit der Renaissance der Kirche in der Politik zu tun hat? Gauck ist tatsächlich ein Prediger. Irgendwie und sowieso kann sich jeder in seinen Reden wiederfinden. Diese breite Zustimmung aber verdeckt wichtige Konfliktlinien. Die Parteien überbieten sich derzeit darin, Verschuldungsgrenzen in Verfassungen zu schreiben. Wo aber ist der Streit über Verfassungsgarantien für soziale Gerechtigkeit, über die Ausgestaltung des informationellen Selbstbestimmungsrechts? Diese Themen werden nur dann angegangen, wenn dies vom Bundesverfassungsgericht angemahnt wird. Über Verschuldungsgrenzen kann man sich schnell einig werden; über Parteigrenzen hinweg. Die wirklich spannende Debatte würde über eine angemessene Staatsquote zu führen sein. Da aber ginge es ans Eingemachte, weshalb diese Diskussion nicht geführt wird.
Der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann, übrigens auch ein bekennender evangelischer Christ, hat immer klare Kante gesprochen in den großen Konflikten seiner Zeit: die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, die Modernisierung des Sexualstrafrechts, die Ostpolitik der frühen siebziger Jahre. Ich wünsche mir Politiker mit Verstand UND Mut zum politischen Streit. Dann dürfen sie gerne auch mal „keilen“.
Und in Bezug auf die derzeitige Führungsriege der FDP … sollten da die Gäule mit mir durchgegangen sein? Manchmal brauchen sie ein wenig Auslauf, sonst werfen sie einen ab.
[Nachtrag] Glücklicherweise hat die Renaissance der Vorbilder und der Kirche in der Politik einen kleinen lächelnden Januskopf: neben die Suche nach Vorbildern tritt die Besinnung auf Werte. Und diese Besinnung macht Hoffnung. Wenn über Familienunternehmen als Werte-getriebene Form des Wirtschaftens vermehrt wohlmeinend gesprochen wird, wenn Trigema-Chef Wolfgang Grupp nicht mehr nur belächelt wird, sondern seine Unternehmensphilosophie gegen zum Beispiel das Selbstverständnis von Anton Schlecker gesetzt wird, dann keimt in mir die Hoffnung auf, dass der Patriarch Grupp nicht gleich zum Vorbild stilisiert wird, aber Wachstum und Profitorientierung als Quelle des Fortschritts kritisch hinterfragt werden.