Uwe Wittstock Marseille 1940

Unterwegs mit Uwe Wittstock in Marseille 1940. Eine Reise und Buchbesprechung

Uwe Wittstock ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Und sein Buch über den Massenexodus der deutschen Intelligenz vor dem Hitlerfaschismus über Frankreich und Spanien ist ein großartiger Essay, nein, ist eine spannende Sammlung an Augen- und Ohrenzeugenberichten über die menschlichen Schicksale rund um die Fluchthelferszene im Marseille der Jahre 1940 und 1941.

Im Zentrum steht Varian Fry, ein US-Amerikaner, der als Fluchthelfer anfangs noch im Auftrag amerikanischer Behörden arbeitete und sich zunehmend gegen seine bürokratischen Auftraggeber in Washington stellte und stellen musste. Denn je größer die Fluchtbewegung aus Nazi-Deutschland wurde, desto rigider wurden die Bestimmungen für ihre Aufnahme im den USA, desto unbeliebter machten sich die Fluchthelfer, desto enger wurde die Kooperation zwischen deutschen Nazis und französischen Kollaborateuren, desto gefährlicher die Fluchtrouten.

Oral History

Uwe Wittstock zeichnet das alles wunderbar nach, und zwar nicht aus der Vogelperspektive, sondern aus der Sicht der Betroffenen, der Flüchtenden. Das ist in bester US-Tradition „Oral History“, spannend geschrieben, genau recherchiert. Freilich muss eine solche Vorgehensweise dazu führen, dass der ein oder andere Rezensent, ich nenne stellvertretend für die ausgetrocknete Bande der Hinterstubenspinnwebenzieher feuilletonscout Stephan Reimertz, dem Autor vorwirft, er schreibe über die berühmten Flüchtlinge Thomas und Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Walter Benjamin, Hannah Arendt oder Lion Feuchtwanger „als wären es die Nachbarn von nebenan“. Ja, das tut „uns Uwe“. Er setzt uns Leser mitten in die Community der Emigranten, es menschelt auf jeder Seite, aber wir verlieren doch deshalb nicht die Achtung vor den Protagonisten.

Uwe Wittstock popularisiert, aber er ist kein Populist. Und das Buch ist kein Abenteuerroman, aber es bezeugt die abenteuerlichen Fluchten und Abgründe, vor denen die Flüchtenden damals standen.

Das Kondom in der Zahnpastatube

Es ist kein wissenschaftliches Werk. Es fokussiert auf bekannte Namen und auf die Höhepunkte der Fluchtwege seiner Protagonisten. Und es erzählt ein wenig voyeuristisch vom Alltag der Fluchthelfer. Aber das gehört dazu, wenn man Geschichte als Alltagsgeschichte beschreiben will. So beschreibt er an einer Stelle den Nachrichtentransport der Fluchthelfer: „Sie schreiben ihre Nachrichten auf sehr schnell zurechtgeschnittene Zettel und verpacken sie in einem Kondom. Dann schneiden sie eine neue Zahnpastatube am hinteren Ende auf, stopfen das Kondom zwischen die paste und rollen die Tube in der üblichen Weise von unten her auf, bis sie aussieht wie eine normale halbleere Zahnpastatube.“
Darauf muss man erst mal kommen.

Das Elend erster und zweiter Klasse

Man erfährt auch, dass Heinrich Mann während seines Abschiedsessens zum Hauptgang einen Burgunder Jahrgang 1912 bestellt und kommentiert „zurückgelehnt in seinem Plüschsessel“ „Tjä, da soll ich denn nun nach Amerika … Da wird’s wohl nur Schnellrestaurants geben“. Muss man das wissen? Und hat er das gesagt? Wissen muss man es nicht. Und ob er das gesagt hat ist überhaupt nicht relevant. Aber diese Szene illustriert den Hedonisten Heinrich Mann durchaus treffend und es zeigt schon auch, dass es im Elend der Flucht noch Unterschiede gab zwischen dem Elend erster und dem Elend zweiter Klasse!

Zwischen Marseille und Portbou

Das Buch trägt die Ortsbezeichnung Marseille im Titel, das heißt aber noch lange nicht, dass es nur in Marseille spielt. Aber Marseille ist natürlich bekannter, als andere anderen wichtigen Fluchtorte. Und Auch Anna Seghers berühmter Flucht-Roman „Transit“ spielt überwiegend in der südfranzösischen Metropole, ein Buch, das ich in jungen Jahren schon verschlungen habe.

Ich beschäftige mich seit meinem Studium mit Exilliteratur und habe in den vergangenen vierzig Jahren zahlreiche Orte auf den Fluchtwegen deutscher Schriftsteller waren besucht. Insbesondere kenne ich die Gegend um Banyuls-sur-Mer, Cerbère und Portbou recht gut. Dort versuchten viele Flüchtende über die französisch-spanische Grenze zu kommen, entweder mit ordentlichen Papieren mit dem Zug von Cebrère durch den Tunnel nach Portbou oder auf mehr oder weniger anstrengenden Pfaden über die Berge, an den Zöllnern vorbei. Letzteres hat vor Jahren schon Lisa Fittko in ihrem autobiografischem Buch „Mein Weg über die Pyrenäen“ beschrieben. Lisa Fittko hat viele Schriftsteller, darunter auch Walter Benjamin, über die Grenze beführt. Auf seinen Spuren bin ich selbst vor Jahren den Weg gegangen. Benjamin hat in Portbou den Freitod gesucht, nachdem er erfahren hat, dass er zurück nach Frankreich geschickt werden soll, was sein sicherer Tod gewesen wäre. Auch diese Episode wird bei Uwe Wittstock kurz angesprochen.

Bei ihm lernt man aber auch weniger bekannte Menschen kennen, etwa Franz Hessel, der sich lange in Sanary-sur-Mer aufhielt. Sollte jemand durch Wittstock auf Hessel aufmerksam werden hätte sich der ganze Wittstock schon gelohnt. Ich empfehle nachdrücklich „Teigwaren leicht gefärbt: Mit einem Waschzettel von Walter Benjamin“ und „Pariser Romanze: Papiere eines Verschollenen“.

Wie also lautet meine Leseempfehlung? Wer sich für die deutsche Exilliteratur interessiert und populärwissenschaftliche Texte und Oral History nicht scheut, der MUSS Marseille 1940 von Uwe Wittstock lesen. Wer ein Buch sucht, das leicht zu lesen ist und trotzdem einen schweren Stoff hat, der sollte dieses Buch mal zur Hand nehmen. Klo-Lektüre für die Antifa-WG? Ja geht auch. Und ich meine das nicht despektierlich. Schließlich ist das ein wichtiger Lese-Ort. Jedenfalls wichtiger als das Stehpult von Stephan Reimertz.

Illustrationen © Michael Kausch

Vielen Dank für dein Interesse an diesem Beitrag. Wenn er dir gefallen hat würde ich mich über ein LIKE freuen. Oder teile ihn doch mit deinen Freunden über ein soziales Netzwerk. Und am meisten freue ich mich natürlich über Kommentare, Kritik und Anregungen.

Weitere interessante Artikel

Buchempfehlung: Selma Meerbaum-Eisinger: Ich bin in Sehnsucht eingehüllt

Ein Gedichtband. Und eines der wichtigsten Bücher der deutschen Poetik. Selma Meerbaum-Eisinger starb am 16. Dezember 1942 im deutschen Arbeitslager Michailowka an Flecktyphus. Sie war eine von rund 1.200 ermordeten Juden, die dort für die Organisation Todt zu Tode gearbeitet wurden. Viele von ihnen stammten ursprünglich aus Czernowitz und der Region Bukowina, darunter auch die Eltern des Dichters Paul Celan, mit dem Selma Meerbaum-Eisinger verwandt war. Selma wurde 1924 ebenfalls in Czernowitz geboren. Sie wurde gerade einmal 18 Jahre alt.

Weiterlesen »

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.