Karl Marx in Algier

Uwe Wittstock: Karl Marx in Algier – Eine Buchvorstellung

Vorgestern habe ich es mir vorlesen lassen: „Karl Marx in Algier“, das neue alte Buch von Uwe Wittstock. Und gelesen hat kein Geringerer als Uwe Wittstock selbst. Bei Spargelsüppchen, Kalbsrücken und Crème Brulée im Münchner Café Luitpold, einem Café, das vor 100 Jahren einmal recht legendär war. Ist lange her. Zurzeit ist Uwe Wittstock legendär. Jedenfalls seit dem wunderhübschen Buch „Marseille 1940“ über das Schicksal der (deutschen) Exilliteraten auf ihrer Flucht vor den Nazi-Schergen in den Jahren 1940/41, ein Buch, das völlig zu Recht die Bestseller-Listen eroberte.

Mit seinem Buch über „Leben und letzte Reise eines Revolutionärs“, so der Untertitel, versucht der einstige Focus-, FAZ- und Welt-Journalist Wittstock nun in seinem eigenen Fahrtwind zu segeln und sich nochmal ganz vorne zu platzieren. Eigens dafür hat er sein Buch über die letzte Reise von Marx nach Algier, das im Marx-Jahr 2018 unter dem Titel „Karl Marx beim Barbier“ bei Blessing schon einmal erschien, wiederaufbereitet. Eigentlich fand ich den alten Titel origineller. Und treffender. Aber ebenso falsch, wie den aktuellen …

Pay one, get two – Warum hat Wittstock zwei Bücher in einem Band geschrieben?

Eigentlich hat Uwe Wittstock in diesem Werk zwei Bücher zwischen zwei Buchdeckel gepresst. Und das tut dem Werk nicht gut. Ferdinand von Schirach lobpreist wohlmeinend: „Uwe Wittstock wechselt elegant zwischen Biografie und Erzählung, und ihm gelingt das Kunststück, die philosophischen Ideen dieser Zeit mühelos zu erklären“. Das ist, so scheint mir, denn doch ein wenig zu viel der Ehre. Tatsächlich springt der Autor von Kapitel zu Kapitel munter hin und her zwischen der Rolle des eintausendzweifünfundachtzigsten Marx-Biographen und Sachbuchautors und des von mir sehr geschätzten einmaligen Feuilletonisten, der wunderbar leichtfüßig und unterhaltsam über die wenig bekannte Reise Marxens ins ferne Algier berichtet. Allein die beiden Teile wollen nicht so recht zusammenfinden. Und das ist schade. 

Marx ohne Dogma

Die Marx-Biographie macht nach Volumen gut zwei Drittel des Büchleins aus und entbirgt Leser*innen, die sich ein wenig gründlicher mit dem Leben und Werk Marxens auskennen, wenig neues. Uwe Wittstock bestand zwar in seiner Lesung vorgestern mehrfach darauf, dass seine Lektüre der MEGA, der Marx-Engels-Gesamtausgabe, nach der er auch im Buch ständig zitiert, gegenüber der gängigen Lektüre der Marx-Engels-Werke (MEW – das sind die gängigen „Blauen Bände“, die wir in unserer Jugend immer aus den linken Buchläden nach Hause getragen haben und die heute die heimischen Regale altlinker Studienräte biegen) neue und originelle Aufschlüsse über das Denken des Meisters zu Tage förderten. Aber das ist vorsichtig formuliert arg übertrieben. Dass die Bände 2 und vor allem 3 des Kapitals weitgehend nicht nur von Friedrich Engels editiert wurden, sondern in mancher Hinsicht Marxens Überlegungen weitgehend deformiert wiedergeben ist alles andere als neu. Aber es geht dabei auch gar nicht so sehr um eine „Deformation“, als vielmehr um eine unangemessene „Formation“. Alles was nach dem ersten Band des Kapitals kam, war nie zu Ende gedacht. Ja selbst der erste noch von ihm mehrmals neu redigierte Band war nie „zu Ende“ gedacht und geschrieben. In seinen späteren ökonomischen Manuskripten hat Marx viele früheren Überzeugungen relativiert. „Fertig“ im Sinne eines abgeschlossenen Theoriegebäudes“ war Marxens ökonomische Theorie nie. Allein die Analyse der Aktiengesellschaften, die ja erst in relevantem Umfang sich durchsetzten, als der erste Band des Kapitals längst geschrieben war, nötigte Marx zu völlig neuen Überlegungen in Bezug auf die Relation zwischen Staat und Wirtschaft und die Stabilität kapitalistischer Unternehmungen. 

Uwe Wittstock ist beileibe nicht der Erste, der darauf hinweist, aber man sollte ihm zugutehalten, dass er darauf hinweist. Wittstock ist als Nicht-Marxist vor marxistischen Dogmen gefeit. Das verbindet ihn – ob er will oder nicht – mit Marx. „Moi, je ne suis pas un marxist“ wusste schon Marx zu sagen … 

Marx ohne Bart

Und das wäre nun die Verbindung zwischen den beiden Büchern im Buch: Marx ohne Dogma ist ein Marx ohne Bart. Was Uwe Wittstock in gewohnt souveräner Weise leistet, ist Unterhaltung auf höchstem Niveau. Er ist nach Algier gefahren und hat ganz im Stil eines „Reporters“ die Orte besucht, die Karl Marx zwischen Februar und April 1882 in dieser Stadt am Fuße des Atlas-Gebirges besucht hat. Marx war auf ärztlichen Rat in das damals französisch verwaltete Algerien gekommen, um eine Lungenerkrankung oder Rippenfellentzündung auszukurieren. Es ging ihm physisch und psychisch während seines Aufenthalts ausgesprochen schlecht. Er musste lange Zeit Bett und Haus hüten. Er war allein angereist, litt noch unter dem Verlust seiner vor Kurzem verstorbenen Frau Jenny und fühlte sich ohnehin fremd und einsam, war es doch das erste (und einzige) Mal, dass er überhaupt europäischen Boden verlassen hatte. Und er war immerhin 64 Jahre alt.

Uwe Wittstock zitiert aus Briefen Marxens aus dessen Zeit in Algier und entwirft ein Bild zunehmender Vereinsamung. Marx scheint, von Krankheit und vom Verlust seiner Jenny gezeichnet, in diesen Wochen immer wieder ein Resümee seines Lebens gezogen zu haben. Ihm war klar, dass er sein Lebenswerk niemals würde so beenden können, wie er es sich selbst vorgenommen hatte und wie es von ihm verlangt und erwartet wurde, weder als Wissenschaftler, noch als politischer Agitator. Vermutlich sah er seinen eigenen Tod in jenen Wochen heraufkommen. Und er lufte ja tatsächlich schon um Eck. Für einen älteren Herren, in einem fremden Land ohne Familie und Freunde in der engeren Umgebung, keine ganz abwegige Vorstellung.

Und so ließ er sich in den letzten Tagen seines Aufenthalts schließlich die Haare stutzen und den geliebten und über Jahrzehnte gepflegten Bart vom Barbier abnehmen. Für Männer mit Bart und langer Haarpracht ist auch das eine bekannte Verhaltensweise. 

Der Autor Michael Kausch mit vollem Bart und langem Haar vor vielen Jahren und vor einem Besuch beim Barbier.

Für Uwe Wittstock ist das natürlich ein schönes Bild: der Bart ist ab!

Hier ist er: Karl Marx ohne Bart

Ein Bild gibt es vom bartlosen Propheten des Proletariats natürlich nicht. Im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz schreckt uns das nicht. Hier ist mein Bild des bartlosen Marx. Ich widme es Uwe Wittstock, der mir einmal mehr großen Lesespass vermittelt hat, zumindest mit der einen Hälfte seines Buchs „Karl Marx in Algier“:

Karl Marx ohne Bart
Karl Marx ohne Bart in Algier, nach einem Besuch beim Barbier (erstellt von Michael Kausch mit ChatGPT anhand des letzten bekannten Fotos von Karl Marx aus Algier. Der Prompt lautete: Entferne den Bart, kürze das Haar und färbe das Bild ein)

Illustrationen © Michael Kausch

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