Werner Herzog Jeder für sich und Gott gegen alle

Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle – Fast eine Buchbesprechung

„Jeder für sich und Gott gegen alle“ – es war dieser Film über Kasper Hauser, mit dem ich Werner Herzog 1974 kennenlernte. Im späten Sommer 2022 hat dieser großartige Regisseur und Schriftsteller bei Hanser seine Autobiografie unter diesem Titel veröffentlicht. Man muss sie lesen. Das heißt, eigentlich kann man sie nicht lesen …

Werner Herzog und Alexander Kluge – die epischen Regisseure

Werner Herzog kann man nicht lesen, denn wenn man ihn liest hört man ihn. Da geht es mir wie bei Alexander Kluge: lese ich ein Buch von Alexander Kluge, dann höre ich Kluge beim Vorlesen des Textes zu. Und bei der Lektüre von „Jeder für sich und Gott gegen alle“ schmeichelte sich mir unablässig die Stimme Werner Herzogs ins Ohr. Das ist wohl typisch bei großen Epikern des Lichtspieltheaters. Herzog hat ja einmal gesagt, das er glaube, er sei in erster Linie kein Regisseur, sondern Schriftsteller. Seine Bücher würden nach seinem Tod länger den Menschen in Erinnerung bleiben, als seine Filme. Ich kann mir nicht vorstellen, dass seine Filme jemals der Vergessenheit anheimfallen werden. Aber dass er ein großartiger und sprachgewandter Erzähler ist, neben Alexander Kluge der beste, den die deutschsprachige Filmszene hat, das ist klar. Und weil er nicht nur klar schreibt, sondern auch druckreif spricht, so meint man beim Lesen ihn ständig sprechen zu hören. Und da Herzog um so vieles langsamer spricht als Kluge, lesen sich auch seine Texte viel langsamer, als jene des Mannes aus Halberstadt. Ich denke, dies geht nicht nur mir so. Und ich denke, dies ist auch gut so. Schließlich hat Kluge so viel mehr geschrieben. Würde man ihn lesen wie Herzog, man käme gar nicht mit seinem Werk zurande. Spannend wäre noch zu erfahren, ob diese unterschiedliche Zeiterfahrung sich auch beim Schreiben wiederfinden würde: schreibt Kluge schneller, als Herzog? Vielleicht findet sich einmal ein von der Statistik versauter Germanistik-Student, der sich der Frage nach der Korrelation zwischen Schreib- und Sprechtempi widmet.

Aber ich will ja eigentlich über das Buch sprechen …

Ich will amol a solchener Reiter werden wie mei Vadder einer gwen is

Das Buch trägt also den Titel „Jeder für sich und Gott gegen alle“, wie ein Film von Werner Herzog aus dem Jahr 1974 über das historische Findelkind Kaspar Hauser. Dies war dann auch der erste Film von ihm, den ich gesehen habe. Wenn ich mich richtig erinnere, handelte es sich um eine Vorab-Aufführung im Ansbacher Schloßkino.

In Ansbach, meinem Geburtsort, einer fränkischen Beamtenprovinzmetropole mit damals gut 30.000 Einwohnern, gab es während meiner Jugend vier Kinos: die Kammerlichtspiele, ein Sex-Kino, in dem wir als Schüler nur die reich bebilderten Auslagen studieren durften, das Central-Kino, in dem eigentlich nie ein Film lief, der meine Aufmerksamkeit in irgendeiner nachhaltigen Form erregte, das Capitol-Kino, in dem Roy Black und Uschi Glas wohnten und als einzig ernst zu nehmendes Haus jenes besagte Schloßkino (damals noch mit „ß“). Das Schloßkino war derart ernst zu nehmen, dass dort die guten Filme stets in einem fast leeren Saal gezeigt wurden, weshalb dann auch eines Tages im Obergeschoss ein „kleines Haus“ als Programmkino eingerichtet wurde. Dort also lief Filmkunst, sprich der neue deutsche Film, aber auch Woody Allen und eben alles, was mich ins Kino trieb. Das Schloßkino war auch als einziges Ansbacher Lichtspielhaus in einem architektonisch anspruchsvollem Gebäude beheimatet, dem 1929/30 im strengen Stil der neuen Sachlichkeit errichteten Haus der Volksbildung. Nach 2001 wurde es allerdings bis zur Unkenntlichkeit renoviert.

Dass „Jeder für sich und Gott gegen alle“ so früh nach Ansbach kam lag daran, dass Kaspar Hauser in Ansbach lebte und sich ebendort im Hofgarten das Attentat auf ihn ereignete, an dessen Folgen er im Dezember 1833 verstarb. Am Ort des Attentats wurde ihm schon früh ein Gedenkstein errichtet, an dem sich während meiner Schulzeit die Jugend zum Pubertieren darf. Ich habe wie viele Ansbacherinnen und Ansbacher meiner Generation viele Sommer auf der vom Blut Kaspar Hausers getränkten Wiese mit billigem Rotwein und allerlei Rauchzeug verbracht. Ein Sommer ist mir besonders in Erinnerung geblieben, in dem ein langhaariges blondes Mädchen viel Zeit auf dem Gepäckträger meines Mofas verbrachte. Ihren Namen habe ich vergessen, doch scheint ihr weiterer Lebensweg sie als Bäckereifachverkäuferin an Ansbach gefesselt zu haben. Jedenfalls traf sie Jahrzehnte später in dem Ladengeschäft, in dem sie beschäftigt war, meine Mutter. Sie hörte deren Nachnamen, erkundigte sich nach mir und lies mir viele Grüße ausrichten. Sie sei eine alte Jugendfreundin des Sohns. Ihren Namen habe ich gleich wieder vergessen, nicht aber ihre langen blonden Haare.

Und auch nicht meinen ersten Werner Herzog-Film. „Jeder für sich und Gott gegen alle“ hat mich überwältigt. Die bedächtige Erzählweise hat mich ebenso gefesselt wie die starken Bilder der Traumsequenzen, die Gemälde-hafte Darstellung meiner fränkischen Heimatlandschaften oder die Musik von Popol Vuh.

Kurz: Ich war mit diesem Film zum Werner Herzog-Fan geworden. Seine Filme haben mich mein Leben lang begleitet, wie nur noch die Filme von Herbert Achternbusch und Alexander Kluge, eine auf den ersten Blick seltsame Triade, die aber gar nicht mehr so seltsam ist, wenn man erkennt, dass alle drei Regisseure letztlich Schriftsteller waren oder sind.

Und noch etwas: sie kommen alle aus der Provinz. Auch wenn Herbert in München geboren wurde, aufgewachsen ist er im Bayerischen Wald, Alexander Kluge in Halberstadt, Werner Herzog in Sachrang. Und die Provinz formt den Menschen nachhaltig.

Werner Herzog und der Geigelstein

Bei der Lektüre des Buches – darum sollte es ja bei einer Buchbesprechung eigentlich gehen – sind mir die zahlreichen Kindheitserinnerungen Herzogs an den Geigelstein aufgefallen. Der Geigelstein ist ein gut 1.800 Meter hoher Berg in den Chiemgauer Alpen. An einer Stelle berichtet er ausführlich von einer Einsiedlerin auf einer Hochalm am Geigelstein und er erzählt von seinen Wanderungen und Natur- und Menschenerlebnissen am Geigelstein. Ich selbst übernachtete mit etwa zehn Jahren mit meinem Vater einmal auf einer Wandertour auf einer Alm am Geigelstein und kenne die Gegend aus mehreren Sommerurlauben recht gut. Ich kenne aber eher die östliche Flanke des Berges, die Seite von Schleching her, Herzog die westliche, auf der Sachrang liegt. Trotzdem kamen mir viele seiner Kindheitserinnerungen recht vertraut vor.

Werner Herzog ist 17 Jahre älter als ich. Geboren 1942 ist er ein wirkliches Nachkriegskind. Trotzdem scheinen mir viele seiner Nachkriegserinnerungen sehr vertraut. Wenn er die Armut seiner Kindheit beschreibt, so berichtet er, dass es oft nur eine Scheibe Brot am Tag gab. Diesen Hunger kenne ich nicht. Aber im Rückblick erscheint mir der Umstand, dass es in meiner Kindheit in den frühen sechziger Jahren nur einmal pro Woche Wurst oder Fleisch gab, auch als „ärmlich“, oder doch zumindest als einfach. Und wenn Herzog erklärt, dass Bescheidenheit in Fragen der Ernährung für ihn eng mit seinen Kindheitserinnerungen zusammenhängt, obwohl er in seinem späteren Leben in Los Angeles und anderswo überbordende Buffets kennengelernt hat, so kann ich diese Erfahrung sehr gut nachvollziehen. Wer aus einer Arbeiterfamilie kommt und in den sechziger Jahren in der Provinz groß geworden ist, der verliert eine gewisse Bodenhaftung auch dann nicht, wenn er später mit dem reichsten Mann des Planeten Tennis gespielt hat – es sei denn er wird sozialdemokratischer Bundeskanzler …

Mit Werner Herzog in Schwabing

1981 lebte ich in Schwabing in der Karl-Theodor-Straße. Ein paar Häuser weiter hatte Werner Herzog sein Büro. Es begab sich, dass Walter, ein guter Freund aus Studientagen, seinen Geburtstag mit Freunden in einem Münchner Kino feiern wollte. Er mietete das Isabella an und dort wollte er frühe Dokumentar- und Kurzfilme von Werner Herzog zeigen. In Erinnerung sind mir „How much would a woodchuck chuck“, eine Dokumentation über die Weltmeisterschaft der Viehauktionatoren in Pennsylvania (1976) und „Die große Ekstase des Bildschnitzers Steiner“ über den Skiflieger Walter Steiner (1973). Da Walter die Filme für die Vorführung nirgendwo auftreiben konnte wandten wir uns direkt an unseren Nachbarn, also an Werner Herzog. Der war von der Idee einer Privatvorführung so angetan, dass er uns seine Privatkopien anbot. Walter trieb dann aber doch noch einen Verleih mit 16mm-Kopien auf.

Die Jahre um 1980 waren für München und Schwabing eine großartige Zeit. Damals war München noch Deutschlands Kreativhauptstadt. Hier arbeiteten Faßbinder, Achternbusch, Lemke, Schilling und viele andere. Werner Herzog berichtet in seiner Autobiografie nur kurz über seine Münchner Zeit. Irgendwann ist die ganze Karawane nach Berlin gezogen. Heute ist die Stadt tot.

Werner Herzog und die toten Augen von London

Natürlich nimmt im Buch und in meinen Erinnerungen an Werner Herzog der Amazonas einen großen Stellenwert ein. Und der Amazonas, das ist „Aguirre, der Zorn Gottes“ und – für mich vor allem anderen – „Fitzcarraldo“. Fitzcarraldo war vielleicht der entscheidende Grund, warum ich mich im vergangenen Oktober auf den Weg über den Amazonas ins Teatro Amazonas nach Manaus machte. Ich wollte unbedingt im weißen Anzug auf einem Amazonas-Schiff stehen und Caruso hören. I’ve done it.

Herzog und Amazonas, das ist aber natürlich auch Klaus Kinski und damit eine unglaubliche Geschichte, der Herzog natürlich auch in seiner Autobiografie ausführlich Raum gibt. Für mich neu war dabei frühe Bekanntschaft zwischen den beiden in den Münchner Jahren. Herzog beschreibt Kinski als junges Arschloch und sich selbst als – ja als was eigentlich? – Löwenbändiger? Er erklärt, dass er stets wusste, worauf er sich einließ, als er Kinski in sein Set holte. Aber warum tat er es? Das erklärt er nicht. Es ist bekannt, dass Kinski nicht seine Idealbesetzung für Fitzcarraldo war. Ich hätte den Film gerne wie ursprünglich geplant mit Jack Nicholson in der Hauptrolle gesehen. Aber für Aguirre hatte Herzog nie eine andere Besetzung geplant. ER WOLLTE KINSKI.

Ich habe Kinski nie für einen guten Schauspieler gehalten. Er wäre ein hervorragender Darsteller im expressionistischen Stummfilm gewesen. Aber sobald Kinski den Mund aufmachte war er eine Fehlbesetzung. Man höre sich einmal seine Rezitation der Gedichte von Francois Villon an. Exaltiert bis zum Erbrechen. Dagegen die Versionen von René Bardet mit Poesie und Musik. Man merkt schnell, wer wirklich verrückt nach dem Erdbeermund ist und wer bestenfalls für einen Spot für Langnese Erdbeereis taugt. Die eigenartige Vorliebe Werner Herzogs für Kinski verdankt sich einzig und allein der Hilflosigkeit des Suchenden, der seinen Stil beim Aguirre noch nicht gefunden hat. Der Aguirre ist ein herausragender Film, aber er ist ein Film, der um etwas neues zu Schaffen erst noch einen tiefen Rückgriff in die Mottenkiste des deutschen Kinos macht: er ist ein vertonter Stummfilm in der Tradition Fritz Langs. Das ist übrigens die große Leistung Werner Herzogs, dass er mit dieser Wiederentdeckung der deutschen Filmtradition des großen Erzählkinos zum Wiederaufbau des deutschen Film entscheidend beigetragen hat. In diesem Sinn war Aguirre ein Meilenstein, Kinski eine Scharrte an ihm.

Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Das Buch

Na gut, dies ist wieder keine ordentliche Buchbesprechung geworden. Warum auch? Lest das Buch. Egal, ob Ihr gerne ins Kino geht oder nicht, ob Ihr Werner Herzog mögt oder Klaus Kinski oder Edgar Wallace. Es ist schön geschrieben. Herzog erzählt Episoden aus seinem Leben. Für die Kenner seiner Filme ist nett, wenn er schildert, welche Szenen aus seinen vielen Filmen eigentlich cineastische Verarbeitungen wirklich erlebter Erfahrungen sind. Für alle sind die vielen Abenteuergeschichten aus allen Ecken der Welt nett.

Und natürlich inszeniert sich Werner Herzog in seinem Buch. Wie könnte er anders? Er ist dabei kein Hochstapler. Er ist ein Geschichtenerzähler. Er erzählt sein Leben als Abenteuerroman. Alles mag so gewesen sein. Oder ganz anders. Das ist nicht wirklich wichtig. Als Quelle seiner wunderbaren Filme und Bücher war alles genau so, wie er es beschreibt.

Werner Herzog war für sich – und Gott war vermutlich mal wieder mit irgendetwas ganz anderem beschäftigt.

Illustrationen © Michael Kausch

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