Wikileakswird in der Öffentlichkeit immer gerne als „Whistleblower Plattform“ bezeichnet. Was auch immer man sich darunter vorstellen mag: Im modernen Managersprech ist ein Whistleblower ein Insider, der aus Gewissensgründen an die Öffentlichkeit geht und Geheimnisse verrät, die ihm anvertraut wurden oder auf die er als Teil des Systems Zugriff hatte. Dabei nimmt er in Kauf, zum Verräter an Kollegen, Partnern oder Freunden zu werden. Für die antiken Griechen handelt es sich hier ganz klar um ein moralisches Dilemma, und die Götter haben ihre unbarmherzige Hand im Spiel. Wir Deutschen sehen hier eher Luther vor uns, wie er sagt „hier stehe ich und kann nicht anders“.
Das entspricht aber nun ganz und gar nicht dem Bild, das ich von Wikileaks habe. Die Leute hinter Wikileaks sind selbst keine Insider, oder nicht notwendigerweise. Dokumente, die hier veröffentlicht werden, kommen auch nicht jedes Mal von Insidern, sondern oft wurden sie einfach digital „abgegriffen“. Sie verraten keine Geheimnisse, die ihnen anvertraut wurden, sie zerren Dinge ans Licht, die sie enthüllen. Und sie sind keine reinen Plattformbetreiber, also Megaphon-Halter, sondern sie recherchieren. Nicht alles, wo nur „Skandal“ darübersteht, wird bedenkenlos veröffentlicht. Damit sind sie die modernen Enthüllungsjournalisten, in bester Tradition von Bob Woodward und Carl Bernstein, die verhindern konnten, dass Nixons Watergateaffäre vertuscht wurde. Die Quellen dazu blieben geschützt, die Identität von „Deep Throat“ wurde dreißig Jahre lang geheimgehalten. Inzwischen wissen wir, es war Mark Felt, damals Nummer 2 des FBI. Heute hätte sich Deep Throat vielleicht nicht an die Washington Post gewendet, sondern eher an Wikileaks.
Kenia
Bei Herrn Githongo war das so. Ein Fall, der in Deutschland weniger für Schlagzeilen gesorgt hat: Githongo war in Kenia zuständig für die Bekämpfung der Korruption, was gefühlt dasselbe ist wie ein Eisverhindererjob am Nordpol. Nachdem er seine Aufgabe ernstgenommen hat, musste er fliehen, und er wandte sich in London nicht an die BBC, sondern gleich an Wikileaks. Später wurde durch die Veröffentlichung die Wahl in Kenia stark beeinflußt.
Enthüllungsjournalismus gab es auch in Deutschland, und auch hier versuchte der Staat, oder besser seine Repräsentanten, zunächst reflexhaft, die Wahrheit zu unterdrücken. Die Antwort auf öffentliche Skandale ist höchst selten „wie konnte so eine Sauerei passieren“ sondern fast immer zuerst „wer hat hier geplaudert“, verbunden mit der Androhung von Repressalien und sogar Strafverfolgung. Lückenlos, soweit ich zurückdenken kann, also etwa bis zur Spiegelaffäre, und wenn ich weiter zurückdenken könnte, würde es nicht besser. Damals war ich noch sehr jung, und so erinnere ich mich viel besser an all die Dinge, die wir Wikileaks verdanken:
- Wir kennen nun die geheimen Verträge zwischen Toll Collect und der Bundesregierung. Vielleicht immer noch nicht vollständig, aber was man sehen konnte, war brisant.
- Nachdem die damalige Bundesfamilienministerin von der Leyen behauptet hatte, wie gut ihre Sperrlistenidee in den skandinavischen Ländern funktioniere, war es äußerst spannend, bei Wikileaks zu lesen, was da alles als angebliche Kinderpornographie gesperrt werden sollte. Zuerst kam die dänische Liste, dann die australische, woraufhin Australien nicht etwa den Skandal aufklärte, sondern versuchte, Wikileaks zu zensieren.
- Aktuell: Der Kundus-Report. Genauer: Der berüchtigte Feldjägerbericht, von dem in den Medien so oft die Rede war.
Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Wikileaks sorgt dafür, daß Mauscheleien nie sicher vor Aufdeckung sein können und dass Quellen geschützt werden müssen, damit sie sprudeln. Das natürlich bei aller Gefahr, die von nicht überprüfbaren Quellen ausgehen, aber diese Konstellation ist nicht neu: Auch heute schon müssen Journalisten ihre geschützten Quellen überprüfen oder ihren Ruf aufs Spiel setzen. Wie Wikileaks.
Ein sicherer Ort für Server
Auf dem 26. Computer Communication Congress, kurz: 26C3, traten nun zwei der Macher von Wikileaks auf: Julian Assange und Daniel Schmitt. Sie hatten einen überraschenden Vorschlag: Island sollte die Schweiz der Bits und Bytes werden. Genauer: Island ist der vielleicht flexibelste Staat unter allen zivilisierten Ländern der Welt. In Island hätte man die Chance, die liberalsten Gesetze zum Schutz von Presse- und Veröffentlichungsfreiheit zu schaffen. Dort wäre damit der ideale Ort, Rechenzentren zu eröffnen, nachdem auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit die Voraussetzungen günstig wären, Kühlung und Energieerzeugung sind in Island einfacher als bei uns. Und wie die Schweiz und andere sogenannte Steueroasen daraus Gewinn ziehen konnten, dass sich bei ihnen die Menschen bzw. ihr Geld wohler fühlte als in der jeweiligen Heimat, so könnte Island brisanten Servern einen sicheren Hafen bieten. Deutschland kommt hier nicht in Frage. Wir sind nicht bereit, wirklich liberal und frei zu sein, wenn es um Inhalte geht. Nicht nur diverse Innenminister und ehemalige Familienministerinnen zeigten in der Vergangenheit eine erschreckende Einstellung zu diesem Thema. Hier wird „nicht lang gefackelt“ und Server werden durchaus beschlagnahmt – zumindest wird ihnen damit gedroht.
Servern wie dem von Wikileaks. Also, auf nach Island! Und dann wäre klar, woher ab sofort der Name „Wikileaks“ kommt: Nicht etwa von „Wiki-Wiki“, wie man es in Wikipedia und allen verwandten Portalen sieht und was hawaiianisch ist für „schnell“ (eine Verballhornung des englischen „quick„), sondern von den Gründern der isländischen Nation, den Wikingern!
Apropos Geld: Wikileaks hat gerade den Betrieb bis 6. Januar eingestellt – nicht etwa, weil Weihanchtspause ist, sondern weil denen Selbiges ausgeht. Um weitermachen zu können, brauchen sie dringend Spenden. Wäre vielleicht nicht die schlechteste aller Neujahrsvorsätze: Drückt alle ein paar Euronen ab, damit Dinge ans Licht kommen können, die andere am liebsten unter den Teppich kehren würden.
Die Spenden verwaltet übrigens die Wau Holland Foundation ein. Wer Wau gekannt hat weiß, dass das alleine schon ein Grund ist, mit zu machen.
Apropos Wau Holland: Der Chaos Computer Club, dessen Alterspräsident das 2001 verstorbene Hacker-Urgestein war, kann sowas auch ganz gut. Ich denke da an diverse „befreite Dokumente“ wie die berühmte Kosten-Nutzen-Analyse zur Gesundheitskarte von Booz-Allen-Hamilton im Auftrag der Betreiberfirma gematik, die horrende Kostenüberschreitungen bei dem Prestigeprojekt aufdeckte. Weil das der damaligen Bundesregierung und insbesondere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) furchtbar peinlich war, mußte die Unternehmensberatung das Papier sofort zurückziehen. Sie waren aber nicht schnell genug: Dem CCC wurde das Papier seinerzeit zugespielt, wo es bis heute abrufbar ist: http://www.ccc.de/de/updates/2006/krankheitskarte.