Pete Seegers Lied „Where have all the flowers gone“ hat meine Generation geprägt, und selbst Udo Lindenberg habe ich verziehen, als er es eindeutschte. Es schwang so viel Melancholie mit in dem Refrain, wehmütige Erinnerung an etwas, das uns einmal viel bedeutet hat und das wir selbst aus Dummheit und Unachtsamkeit vernichtet haben. Deshalb habe ich besonders genau hingesehen, als ich die Überschrift über Alex Beams letzte Kolumne in der „Boston Globe“ las: „Where have all the bookstores gone?“
Darin erinnert sich Beam wehmütig zurück an die Zeit, als es noch richtige Buchläden gab, in denen man stöbern konnte oder auch mal einen halben Tag sitzen und ungestört lesen. Ich habe auch solche Erinnerungen, zum Beispiel an Scribners an der Fifth Avenue in New York, dem früheren Sitz des Verlegergiganten, der Ernest Hemmingway und Scott Fitzgerald herausbrachte und der inzwischen ein Beneton „Superstore“ beherbergt. Oder Borders im Turm II des World Trade Center, wo man in bequemen Ledersessel saß und beim Hochblicken auf den Friedhof von Trinity Church blickte. Heute klafft da natürlich ein riesiges Loch.
Nicht, dass es nicht noch schöne Buchläden gäbe. Shakespeare & Company in Paris, zum Beispiel, das zum Glück noch immer aussieht wie ein besonders rumpeliger Dachboden und in dem sich die Bücher sogar hinter der schmalen Holzstiege ins Obergeschoß türmen. Der schönste Buchladen der Welt ist natürlich Lello & Irmao in Porto, ein Jugendstiltraum, dessen einziger Nachteil ist, dass die Bücher dort meist in Portugiesisch geschrieben sind und ich sie nicht lesen kann.
Beam beklagt den Niedergang des Buchhandels in den USA, wo von einst 4.700 Läden heute nur noch knapp 1.600 existieren, und er führt diesen Kahlschlag natürlich auf Amazon und Audible zurück. Das sei bedauerlich, ja, meint Beam, und als Bücher-Fan müsse man eigentlich dagegen auf die Strasse gehen. Aber sein Punkt ist ein anderer: Im Grunde seien wir Bücherfans ja selber schuld, denn indem wir uns normal verhalten, würden wir das töten, was wir am meisten lieben.
Klar kaufe ich bei Amazon. Wenn ich ehrlich bin, kaufe ich fast nur noch bei Amazon. Weil’s halt so bequem und einfach und schnell ist und ich nicht an der Kasse anstehen muss um zu hören, nein, das Buch, das Sie suchen, ist gerade nicht verfügbar, aber wir können’s bestellen, ist in drei Tagen da. Und dann muss ich wieder in die Stadt, während Amazon in der Regel innerhalb von 24 Stunden liefert, ich schon im neuen John le Carré oder Alexander McCall Smith oder Richard Dawkins oder Ken Folett oder Simon Schama oder Philip Roth oder Nick Hornby (gut, ich habe einen etwas skurillen Lesegeschmack…) schmökern kann. Ich will das Buch jetzt haben und nicht erst in drei Tagen, und da gibt es nun mal niemand besseren als Amazon. An die kleinen Buchhändler, die deswegen zumachen müssen, denke ich in dem Moment nicht – niemand tut es.
Nun arbeitet Alex Beam ja für eine der kleineren Tageszeitungen Amerikas, das noch heftiger vom großen Zeitungssterben betroffen ist als wir hier in Deutschland, und auch wenn inzwischen die mächtige Mutter New York Times hinter dem Bostoner Regionalblatt steht, das man im Sommer so herrlich als Unterlage verwenden kann, wenn man in Harvard am Fluss im Gras liegen und den Ruderbooten zuschauen will, so muss auch dort die Belegschaft jeden Tag die Schließung fürchten.
Auf dem Grabstein der letzten Tageszeitung, so Beam, wird folgende Inschrift stehen: „Zu Tode geliebt: Jeder hat sie gelesen, niemand wollte dafür bezahlen.“ Die Zeitungen stellen ihren kostbaren Content kostenlos ins Internet, immer mehr Leute canceln ihr Abo und begnügen sich mit dem, was Google News für sie aus dem Fundus dieser Gratisangebote zusammengestellt hat, und keiner denkt daran, dass es irgendwann keine Quellen mehr geben wird, die Google fleddern kann. Ob dann wirklich die Blogger in die Bresche springen werden und die Profi-Journalisten ersetzen, die keinen Job mehr haben, weil die Leser sie im Stich gelassen haben?
Ich habe zwei Tageszeitungen abonniert, die „Süddeutsche“ und die „International Herald Turbine“, weil ich sie erstens beide gerne lese (und mich über die erfrischend unterschiedlichen Perspektiven einer deutschen und einer amerikanischen Zeitung mit Sitz in Paris freue), zum anderen aber auch, weil ich das Gefühl habe, das Zeitungswesen mit meiner Abogebühr zu subventionieren. Ich würde auch den doppelten Preis bezahlen, wenn ich diese beiden Blätter vor dem Abgang retten könnte. Die „taz“ hat es auch mal probiert, die Leser über die Mitleidstour zum Zeitungskauf zu nötigen. Hat leider nicht besonders gut funktioniert, aber immerhin: Die „taz“ gibt’s noch. Genau wie Shakespeare & Company. Wie lange noch?
Da schreibt einer gegen sein schlechtes Gewissen an, was ja nicht weiter verwundert, wenn die nächste Buchhandlung gerade mal hundert Meter entfernt ist. Und die übernächste 150 Meter. Aber Lauftraining macht er schon. Auf die Idee, das mit dem Bücherbestellen und dem Erhalt der Buchhandlungen in seiner Nachbarschaft zu verbinden, kommt Tim Cole nicht. Das erinnert mich an einen SZ-Redakteur, der in der Wochenendbeilage schrieb: „Mein Beitrag zum Umweltschutz, während ich im Flieger nach Berlin sitze: Ich weiß, wie schädlich fliegen für die Atmosphäre ist.“
Aber das ist doch der Punkt: Wir alle haben ein schlechtes Gewissen, weil wir Buchläden, Videotheken, Zeitungen etc. sterben lassen – eben die Dinge, wie Beam schreibt, die uns eigentlich am liebsten sind. Human nature? Shit happens? Ich weiß es nicht.
nein nein nein, mein lieber tim: hier gibt es einfach keine ausreden. bei amazon kauf ich CDs, weil es schon lange keinen vernünftigen cd-laden in münchen mehr gibt(abgesehen vom kaufhaus beck mit seiner fulminanten jazz- und klassikabteilung). und überwiegend hör und kauf ich eh vinyl (ok: in zwei kleinen dritthndläden und auch online).
aber bücher werden grundsätzlich in meinem buchladen bestellt. meine mitarbeiter bekommen zum geburtstag seit jahren schon einen einkaufsgutschein für den buchladen. und seit meine beiden lieben buchhändler aus altersgründen ihren laden an eine jüngere kollegin weitergegeben haben, kauf ich wohl ein paar bücher weniger im jahr, aber amazon ist trotzdem keine alternative.
niemand darf sich beklagen über den verlust von dingen, die er selbst im stich lässt. wirklich nicht. hans hat völlig recht.
Bevor Ihr mich zerfleischt, zu meiner Ehrenrettung eines: Ich bin Amerikaner und lese fast nur englischsprachige Bücher. Und damit sieht es selbst bei Hugendubel schlecht aus…
Hah! Du und Amerikaner! Der reguläre (US-)Amerikaner tritt grundsätzlich mit erkennbarem Akzent auf. Wenn es bei dem Herrn, der unter dem Pseudonym „Tim Cole“ agiert, irgendeinen landsmannschaftlichen Hinweis gibt, dann den: schwäbisch. Aber voll daneben: Im Grunde ist der einzig erkennbare Akzent dieses Menschen badisch. Genauer: Homo heidelbergiensis.
Aber das „fast“ in „fast nur englischsprachige Bücher“ könnte die Lösung für mein Problem sein: Geh doch einfach mal zur Buchhandlung Waldmann in der Inneren Wiener Straße (eine Äußere gibt es nicht in München), am besten nachmittags, da findest du eine sehr charmante, junge, bebrillte, schwarzkraushaarige Buchhändlerin, bei der du die Novelle „Delfina Paradise – Eine Liebe in München“ von einem gewissen Yours Truly bestellen kannst (und wenn du schon dabei bist: „Stille Winkel in München“ eignet sich ob seiner Aufmachung hervorragend zum Verschenken). Die sehr charmante usw. ruft dich auch an, wenn das Buch da ist. Und, du wirst es nicht glauben: Sie bestellt dir jedes englischsprachige Buch, das du bei amazon.de kriegst.
Echt.
Ab 20:59 ist Schluss mit den Ausreden.
Okay, die Buchläden wären gerettet. Und was ist mit den Zeitungen, um die es in meinem Post ja eigentlich ging?
Die Zeitungen? Das steht doch täglich in der Zeitung, zum Beispiel heute: „In der WAZ-Gruppe sollen 300 der 900 Redakteursstellen abgebaut werden.“
Ich nehme mal an, dafür stellen Sie dann zwei Redakteure für die Online-Ausgabe ein. –
Ich glaub schon, dass Zeitungsabonnenten eine verschwindende Minderheit sind. Und ich weiß nicht, wie lange ich noch dazu gehöre. Bis jetzt kann mir das sinnliche Erlebnis des Zeitunglesens bis hin zum Knistern beim Umblättern kein Online-Angebot ersetzen. Und ich sitze auch lieber mit einem Buch im Sessel oder im Bett als mit dem iBook.
Ich mag Buchläden, lese gerne Zeitung, liebte meine unverwüstliche IBM Kugelkopf und wäre bestimmt für die Dinosaurier auf die Straße gegangen, aber die Welt ändert sich und mit ihr verschwinden manchmal auch schöne, liebgewonnen Dinge, die man dann in Museumsdörfern bestaunt und die dann doch ein Revival haben, weil sie plötzlich mit Seiten protzen, die sie aufs neue interessant machen.
Denn eines kann die ach so kundenorientierte Online-Welt nicht, sie kann uns immer schwerer überraschen. Die Empfehlungen bei Amazon treffen meine Vorlieben längst so gut, dass ich inzwischen einen Buchladen aufsuche, um Neues zu entdecken. Ich schlage die Zeitung auf, weil ich dort lese, was ich nicht vorher gesucht und zusammengestellt habe. Die Individualisierung des Angebots, der Vorteil der Web-Welt, ist zugleich auch ihr größter Nachteil und die Chance für sperrige Fossilien;-)
lieber tim,
warum schreibst du über buchhandlungen, wenn du die zeitung retten willst?
wer je versucht hat seinen steckerlfisch in einen toshiba einzuschlagen, weiss, dass man tageszeitungen nicht so einfach durch computer ersetzen kann …
aber im ernst: das prinzip der „überraschung“ (siehe „atman“) gilt natürlich gerade auch für tageszeitungen.
@ atman: „Chance für sperrige Fossilien;-)“ – so hab ich das noch nicht gesehen, aber das trifft ganz gut meine Absichten. Die Chance, die man nicht hat, nutzen: Schöne Grüße an Herbert Achternbusch!
Mein Bücherkauf sieht meist so aus: Bei Amazon schlag ich die ISBN nach, ruf meinen örtlichen Buchhändler an und habe das Buch am nächsten Tag. Für deutsche Bücher funktioniert das sehr gut.
Und zu den Tageszeitungen: In unserer Lokalzeitung stand tatsächlich diese Woche die Meldung „Vier Handschuhe auf dem Faschingsmarkt gefunden.“ Und da wundert sich jemand, wenn ich lieber Twitter lese?