„Jeder 5. Beschäftigte bearbeitet in der letzten halben Stunde vor dem Schlafengehen noch berufliche E-Mails“ schreibt die BILD-Zeitung (http://bit.ly/M1SsV0). Nun sollte man an dieser Stelle nicht mit halbgaren Witzen über Beamte kommen, bei denen der Schlaf ja durchaus mitten in die Arbeitszeit fallen könnte. Und auch ein Hinweis auf die journalistische Qualität der BILD-Zeitung hilft hier nicht weiter. Hinter diesem Artikel steht ja ein reales Problem: immer mehr Menschen sind für ihren Arbeitgeber heute auch am Abend oder am Wochenende grundsätzlich per E-Mail oder soziale Medien erreichbar. Die Ansprüche von Arbeitgebern an die Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit wachsen. Doch muss man das gesetzlich regeln? Und wenn: wie?
Arbeitsministerin Ursula von der Leyen, auch bekannt als „Zensursula“, fordert „glasklare Regeln“: „Auch das Arbeitsschutzgesetz verlangt mit seinem knallharten Strafenkatalog von jedem Chef, dass er Körper und Geist seiner Mitarbeiter aktiv schützt – werktags genauso wie am Wochenende. In der Praxis heißt das zum Beispiel: glasklare Regeln, zu welchen Uhrzeiten muss ich erreichbar sein und wann bekomme ich dafür meinen Ruheausgleich. Wann muss ich Mails checken und wann ist es okay, dass ich mich später darum kümmere. Die Technik ist kein Problem für die Gesundheit, wir müssen nur lernen, vernünftig damit umzugehen!“
Und BITKOM-Geschäftsführer Bernhard Rohleder springt ihr bei: „Mehr und mehr Firmen haben erkannt, dass die Mitarbeiter Unterstützung bei der Balance zwischen Job und Privatleben brauchen. Sie führen Regeln zur Erreichbarkeit in der Freizeit ein.“
VW sperrt seine Mitarbeiter von E-Mails aus
In zahlreichen Unternehmen gibt es bereits Betriebsvereinbarungen zum Thema. Die meisten von ihnen beinhalten nur eine Klarstellung, dass Mitarbeiter außerhalb der Arbeitszeiten nicht verpflichtet sind, dienstliche E-Mails zu lesen oder Telefonate anzunehmen. VW geht da laut BILD schon weiter: 30 Minuten nach Arbeitsende werden keine E-Mails mehr auf die Blackberry-Smartphones der Beschäftigten weitergeleitet. Das erinnert schon wieder ein wenig an „In Deiner Freizeit sollst Du Dich erholen, damit Du Deine regenerierte Arbeitskraft während der Arbeitszeit wieder Deinem Arbeitgeber uneingeschränkt zur Verfügung stellen kannst“. Das alte paternalistische Prinzip: „Erhol Dich, sonst bringst Du mir nix!“ Jürgen Habermas erkannte schon 1958 in seinen „Soziologischen Notizen“, dass die Reduktion der Freizeit auf die Regeneration nach der Belastung durch die Arbeit, also als Negativ-Definition zur Arbeit, ein Kennzeichen der frühen Industrialisierung war. Der Mensch durfte seine Freizeit nur passiv-regenerativ verbringen, weil die Arbeit alles dominierte. Leben war Arbeit. Damit ist aber auch der Ausschluss der Arbeit aus der Freizeit ein Kennzeichen frühindustrialisierten Denkens und im Kern reaktionär. Wobei hier „Arbeit“ immer im Sinne von „Lohnarbeit“ gedacht wird.
Die Vermischung von Arbeit und Freizeit kann und sollte als Fortschritt empfunden werden im Hinblick auf eine wachsende Autonomie des Individuums im Umgang mit seiner Zeit. Es geht darum, die wachsende zeitliche und räumliche Mobilität von Mitarbeitern dazu zu benutzen, dass diese Mitarbeiter einen besseren und autonomeren Zugriff haben auf ihre Arbeit, nicht, dass die Arbeitgeber einen besseren Zugriff haben auf ihre Mitarbeiter.
Man muss also sorgsam mit diesem Thema umgehen. Mag sein, dass wirklich heute fast jeder dritte Arbeitnehmer „jederzeit“ für den Job telefonisch oder per E-Mail erreichbar ist. Der BITKOM behauptet dies. Aber wenn ver.di-Bundesvorstandsmitglied Lothar Schröder fordert „Wir brauchen ein Recht auf Nichterreichbarkeit, um die Freizeit der Arbeitnehmer zu schützen„, dann spricht hieraus auch ein veralteter Begriff von Arbeit und Freizeit. Dabei wäre es wichtig den technischen Fortschritt wirklich als „Fortschritt“ zu nutzen, und die Autonomie der Beschäftigten zu erhöhen: durch flexible und nicht kontrollierte Arbeitszeiten, durch projekt- und zielbezogene Aufgabenzuschreibung statt Zeiterfassung.
Eine Utopie? Ja freilich: aber das ist nicht utopischer, als das mobile Internet vor zwanzig Jahren. Und die ersten Schritte können wir heute schon machen: überlassen wir die Entscheidung über die Nutzung mobiler Endgeräte den Mitarbeitern. Und überlassen wir es den Mitarbeitern, wann und wo sie – im Rahmen betrieblicher Notwendigkeiten – ihre Arbeit erledigen. In fast allen Unternehmen geht da heute mehr, als erlaubt ist. Wenn wir unsere Kreativität endlich auch verstärkt in die Organisation von Arbeit und Leben investierten, statt „nur“ auf die Dinge, dann könnten wir den 365/24-Mitarbeiter wirklich als Befreiung verstehen.
3 Antworten
Heute steigt auch die w&v (http://www.wuv.de/nachrichten/agenturen/ich_bin_immer_erreichbar_ausser_wenn_der_bvb_spielt) auf diese Diskussion ein. Sie zitiert einen Beitrag aus brandeins über meine Ex-Kundin Dorothee Ritz von Microsoft „Sie selbst arbeitet gern mal sonntags und schickt dem Team E-Mails. Aber sie hat ihren Leuten verboten, am Wochenende darauf zu antworten.“ So ein Blödsinn. Die w&v hat aber auch einige Kommunikationsarbeiter aus deutschen PR-Abteilungen und Agenturen nach ihren Regelungen zur Nacht- und Wochenendarbeit befragt. Da sieht es auch nicht viel evaluierter aus. Sieht man einmal von Mirko Kaminski ab, bei dem die strenge Ehefrau den Mailverkehr am Wochenende kontrolliert …
Ich finde wir brauchen unbedingt noch mehr Regeln und Verordnungen.
Vielleicht kann man ja die Provider zwingen die Mailserver nach 18:00 Uhr und am Wochenende vom Netz zu nehmen. Noch besser, man scannt die E-Mails nach Begriffen aus der Arbeitswelt: „Angebot, Kunde, Präsentation, Schicht, Briefing …“ Solche E-Mails werden dann erst Montag früh weitergeleitet …
Und wenn man diese Technologie hat, dann könnte man auch gleich ….
Als nächstes wird uns auch noch die Entscheidung abgenommen, ob wir uns die Zähne elektrisch putzen oder per Hand. Dann kommt eine neue iPhone-App, die die Zähne mit Ultraschall putzt (für alles gibt’s ne App). Dann wird ein Gesetz erlassen „Zähne mit Smartphone putzen ist elektrisch putzen im Sinne dieser Verordnung“. Dann muss man aber die Zähne zur Geschäftszeit putzen, weil sich ja nach Feierabend das Handy ausschaltet (ab 2019 nicht mehr optional).
Was mich stört ist schon wieder diese Unterstellung, Unternehmen kümmerten sich von sich aus einen feuchten Senf um ihre Mitarbeiter, da müsse schon die Frau Superminister ran. Aber wo wir grad bei Unterstellungen sind: Mich würde schon mal interessieren, was Frau vdL mit ihren Ministerialbeamten für eine Regelung hat. Und was sie zur Kanzlerin sagt, wenn die mal wieder SMSes schickt.
Mein Verdacht: Sie hat nur ein Problem, wenn die Kanzlerin schon länger nichts mehr geschickt hat, und daher macht sie sich im Sommerloch breit, noch bevor der Sommer so richtig angefangen hat.
Ich könnte mich ja jetzt aufregen, aber ich habe gerade meine gesetzliche Ois-is-Easy-Phase. Wenn ich die nicht einhalte, gibt es wieder Ärger.