Fünf Wochen ist es nun her, dass 15 Mann auf des toten Manns Kiste in den Berliner Senat getrieben wurden. Zeit genug, darüber nachzudenken, wie dieser Akt einzuschätzen ist: Untergang oder Schatzkarte?
Erinnern wir uns: Bei der Berliner Abgeordnetenwahl spülte es die Piratenpartei locker über den 5-Prozent-Deich:
Um stolze 5,5 Prozent legten die Piraten zu, mehr als die Grünen (+4,5%). Das Gewinn der Piraten war fast so groß, wie der Totalverlust der FDP (-5,8%).
Natürlich spielten Berliner Besonderheiten auch eine Rolle. 2009, als die Piraten bundesweit bei zwei Prozent lagen, holten sie in Berlin immerhin schon 3,4 Prozent. Trotzdem: die Berliner Luft alleine kann man für die neue Kraft der Piraten so wenig verantwortlich machen wie Popeye’s Spinat.
Tatsächlich sind die Piraten zwei Parteien, jedenfalls was ihre Wählerschaft ausmacht: erobert haben sie ihre Stimmen vor allem bei Nichtwählern und Kleinstparteien einerseits und zugezogenen Neubürgern und Erstwählern andererseits. So sind die Piraten zugleich Protestpartei gegen die Etablierten, wie auch die Partei der mobilen männlichen Internet-Bewohner. DESHALB auch kommen die Wähler der Piraten aus allen Bildungsschichten. Sie neutralisieren einerseits Nicht- und Protestwähler – auch potentiell rechtsradikal wählende – und transportieren andererseits die Agenda der jungen Netz-Liberalen. Es gibt also einen “trendigen” inhaltlichen Kern der Piraten, der ihnen Wachstumspotenziale verspricht und einen Sondereffekt, den Frust- und Wutbürger beisteuern, denen die Grünen zu fischerig, die Linken zu honeckeristisch und die Sozialdemokraten zu verschrödert sind.
Das Gezetere um anarchische Arbeitsformen und monothematische Fokussierung kann man getrost ignorieren: die googelnde Pirat ist eine modische und hochgradig medienaffine Zeiterscheinung, wie der strickende Grüne vor 30 Jahren. Dass die Netzpolitik in ihrem Umfang im aktuellen Programm den vierfachen Umfang von Sozial-, Umwelt- plus Bildungspolitik ausmacht, erinnert nur an jene Grüne, die in den 70igern aber auch wirklich jedes Thema durch das grün-alternative Nadelöhr flochten. Und die zum Teil seltsamen Figuren auf dem Piratendeck sind nicht peinlicher als Baldur Springmann auf grünen Gründungsversammlungen. Politische Folklore wird die Piraten nicht aufhalten Über ihre Forderung nach Abschaffung des Paragraphen 173 “Beischlaf zwischen Verwandten” werden sie nicht stolpern. In Italien könnten sie damit locker einen Ministerpräsidenten stellen.
Die Parteien müssen die Themen der Piraten aufgreifen – an Antworten mangelt es nicht
Wenn die etablierten politischen Kräfte wirklich etwas gegen die Piraten unternehmen wollen, müssen sie Antworten finden auf die netzpolitischen und bürgerrechtlichen Vorschläge der Piraten. Und das wäre gar nicht so schwer: denn weit gediehen sind diese Debatten bislang bei den Freibeutern nicht. Sowohl bei den Grünen, als auch in der SPD und selbst bei Frei- und Christdemokraten ist die Diskussion um Recht und Internet nicht wirklich im Hintertreffen. Dies gilt auch wenn sich die SPD von Herzen bemüht auf ihrem Parteitag Anfang Dezember 2011 einmal mehr auf “naiv” zu machen. Der von der sozialdemokratischen Medienkommission vorbereitete Antrag fabuliert zum Beispiel:
“Das Internet erzeugt eine grenzenlose Transparenz in bisher unbekanntem Ausmaße. Sie erhöht den Druck auf undemokratische Regime und Politik, wie sich an immer mehr Beispielen zeigt.” Da wird aus dem gelernten Technikskeptizismus der 90er Jahre nun flugs eine opportunistische Gute-Hoffnungs-Lüge der Marke “Die Technik wird’s schon richten”. Ja haben denn die Bürgerrechtler die DDR-Machthaber mit Twitter und Facebook aus dem Zentralrat gejagt? Schlimmer noch drohen die West-Genossen: “Das Internet ist eine Waffe der Sozialdemokratie”. Auch das noch. Kaum haben sie ihr peinliches Plädoyer für Internetsperren vergessen (gemacht), schon sucht der sozialdemokratische Don Quichotte neue virtuelle Windmühlen – mit dem Web in der Hand und entschiedener Entschlossenheit im kämpferischen Gesicht.
Man muss bei den etablierten Parteien schon von den Vorständen und Parteitagsbeschlüssen weg- und zu den Web-kompetenten Experten hinsehen, etwa zur christsozialen Vorzeige-Twittereuse Dorothee Bär oder noch erheblich professioneller zu den Mitgliedern des Berliner SPD Netzforums, wenn man kompetenzfündig werden will. Vergleicht man einmal den Stand der Debatte des Netzforums mit demjenigen bei den Piraten, so muss und darf man feststellen, dass es die Piraten eigentlich gar nicht bräuchte.
Zwischen Backbord und Saling – ein Vergleich von SPD und Piraten in Sachen Netzpolitik
Ich habe einmal die wichtigsten Forderungen von SPD Netzforum und Piraten konsolidiert nebeneinandergestellt [und wo mir dies nötig erschien ein wenig kommentiert]:
1. Bürgerrechte
- Nein zur Vorratsdatenspeicherung sagen beide
- Ja zur Informationspflicht von Unternehmen, die private personenbezogene Daten speichern sagen beide
- Gegen Rasterfahndung ohne konkrete Verdachtsmomente sprechen sich beide aus
- Für ein grundsätzliches Opt-In-Verfahren bei der Speicherung personenbezogener privater Daten sprechen sich die SPDler aus
- Nur die Piraten fordern den Verzicht auf biometrische Pässe, RFID und Videoüberwachung [mit RFID ist es doch wie beim Beton: es kommt drauf an, was man draus macht!]
2. Open Government
- Hier sind die Piraten offenbar noch nicht so weit und nur die Genossen fordern explizit
- Open Data in allen Behörden
- “E-Partizipation” durch Public Streaming von Plenar- und Ausschusssitzungen
- “Policy Tracking” durch Online-Statusberichte von Gesetzesinitiativen und der Erarbeitung von Verordnungen
- den Einsatz von Open Source Software in Behörden [halte ich in dieser Absolutheit für ideologisch]
- die Durchsetzung dezentraler IT in Behörden [lasst doch die Verwaltung selbst entscheiden]
3. Urheberrechte
- Hier sind die Piraten offenbar weiter: während die SPD nur allgemein ein Reform des Urheberrechts anmahnt, fordern die Piraten
- Open Access für alle steuerlich geförderten wissenschaftlichen und Forschungsprojekte [als Tag der offenen Tür für internationale Wirtschaftsspionage?]
- ein uneingeschränktes Recht für privates und nicht-kommerzielles Kopieren und das Recht auf die Nutzung von Tauschbörsen [dabei wird es doch immer schwerer Privates und Kommerziellem zu trennen: die Tauschbörsen sind ein schönes Beispiel hierfür; nein nein: so geht das nicht!]
- gegen technische Einrichtungen zum Kopierschutz [die falsche Konsequenz aus einem falschen Ansatz]
- die Verkürzung der Schutzfrist von derzeit 70 Jahren auf 10 Jahre nach Veröffentlichung [ich würde eine Aufhebung der Schutzfrist mit dem Tod des Kreativen für vernünftiger halten. Das wäre dann eine Art “kreative Erbschaftssteuer”]
- für ein Verbot von Patenten auf “Lebewesen, Gene, Geschäftsideen und Software” [streicht die “Geschäftsideen” und die “Software” und wir machen einen Deal …]
4. Netzpolitik
- Piraten und SPD wenden sich gegen Internet-Sperren und Filter
- Beide fordern die flächendeckende Breitbandverkabelung und den Ausbau der Funknetze
- Nur die SPD erklärt sich derzeit klar
- zur Netzneutralität
- gegen Internet-Zugangssperren als Strafe [mit Blick auf Frankreich sicherlich]
- für eine Haftungsfreistellung von Betreibern offener Access Points
5. Medienpolitik
- Die Piraten gucken nicht fern und haben diesbezüglich wohl noch keine klaren Programmforderungen erarbeitet. Das SPD Forum Netzpolitik fordert
- Verzicht auf Leistungsschutzrechte für Totholzmedien, vulgo Presse
- eine gesetzliche Absicherung und Sonderstellung der Betreiber von Whistle Blowing-Diensten ähnlich dem Pressegesetz [sehr schön!]
- Public License-Vorgaben für alle Erzeugnisse öffentlich-rechtlicher Anstalten [das ist so spannend, das ich mich damit noch einmal in einem eigenen Posting auseinandersetzen werde] und damit verbunden
- einen uneingeschränkten Ausbau der digitalen Angebote der öffentlich-rechtlichen Sender
6. Bildung und Netz
- Die SPD fordert schließlich
- den Ausbau von Medienpädagogik als Querschnittsthema im Schulunterricht [sehr korrekt: nicht ein Fach Medienpädagogik, sondern Aufgreifen der Themen in allen relevanten Fächern]
- den Ausbau des Informatikunterrichts
Als Grundlage habe ich den jeweils aktuellen mir bekannten Stand der grundlegenden Programmpapiere von Piraten und Berliner SPD Forum Netzpolitik genutzt. Das ist nicht unproblematisch, ist das das Programm der Piraten eine Art “immerwährender Parteitag”. Aber immerhin zeichnen die Piraten “beschlossene” Forderungen von einfachen Beiträgen aus. Auch das sozialdemokratische Forum Netzpolitik ist erst noch dabei sein Grundsatzpapier netzöffentlich zu erarbeiten. Aber hier geht es auch nicht so sehr darum, wer was zu erst aufschreibt, sondern darum, sinnvolle Debatten in Gang zu setzen.
(a) Du willst Patente auf Software? Du bist kein Programmierer – man muss kein Pirat sein, um das als hochgefährlich zu erkennen.
(b) Dass die SPD staatlich regulierte Netzneutralität fordert, ist schon klar. Dass die Piraten das nicht wollen, verwundert nicht, denn die staatliche Regulierung ist das größere Übel als gierige Konzerne, deren Macht man gerade mit dem Internet oft recht leicht brechen kann. Subsidiarität ist hier das Zauberwort, so wenig Staat wie möglich.
Jedenfalls ist das eine spannende Sache mit den Piraten, den für mich legitimen Erben der Aufklärung und des Liberalismus. Als „liberal“ noch kein Schimpfwort war …